Drogenpolitik 1993

(Beschlüsse des Landeshauptausschusses am 22. Mai 1993 in Neuenstein)

Präambel

Drogenpolitik geht jeden an, denn Drogenabhängigkeit kann jeden treffen.

Unstreitig ist dabei, dass die Drogenpolitik differenzierter als bisher, aber auch konsequenter gestaltet werden muss, um den steigenden individuellen und gesellschaftlichen Gefährdungen entgegenzuwirken.

Jugendliche und junge Erwachsene sind besonders gefährdet. Dabei sind die Ursachen für die in unserer Wohlstandsgesellschaft sich mehrende Drogensucht noch weitgehend unerforscht. So scheinen z. B. zerrüttete Ehe- und Familienverhältnisse, Kommunikationslosigkeit, Vereinzelung, fehlende Moral und Wertvorstellungen sowie Versagensängste in der modernen Leistungsgesellschaft den Drogenmissbrauch insbesondere Jugendlicher zu begünstigen. Fehlender Freiraum Jugendlicher und Suchtverhalten Erwachsener macht es Jugendlichen schwer, positive Lebensziele zu finden.

Auch wer selbst nicht abhängig wird, kann betroffen sein: Als Ehegatte, Eltern, Geschwister, Freund, Lehrer, aber auch als Opfer von Beschaffungskriminalität. Die Bekämpfung der Drogenkriminalität ist eine nationale Aufgabe. Dazu ist eine große gemeinsame Kraftanstrengung von Bund, Ländern und Gemeinden, Kirchen, freien Trägern, ja der gesamten Bevölkerung notwendig. Erforderlich sind finanziell hochdotierte Anti-Drogenprogramme. Die zunehmende Kriminalitätsrate schädigt Bürger/innen und sind ein großes Sicherheitsrisiko.

Für die Bekämpfung der Drogensucht gibt es keine Patentrezepte. Deshalb erfordert Drogenpolitik Offenheit. Drogensucht ist ein komplizierter und vielgestaltiger Prozess. Es

gibt viele verschiedene Wege in die Sucht. Entsprechend vielgestaltig müssen die vorbeugenden und therapeutischen Maßnahmen sein.

1. Prävention

Vorbeugung und Aufklärung sind erfolgversprechende Mittel gegen den Drogenmissbrauch. Schulen und alle anderen Bildungseinrichtungen müssen noch stärker als bisher einbezogen werden. Vorbeugung und Aufklärung drohen aber dann wirkungslos zu bleiben, wenn sich die Verhaltensmuster von Eltern und Erziehern nicht ändern. Das eigene Suchtverhalten bezüglich Alkohol, Nikotin und Tabletten prägt unsere Kinder. Es bereitet den Boden für deren Gefährdung.

Deshalb muss Prävention sowohl auf die Veränderung von Verhaltensweisen und Wertorientierungen als auch auf die Vermeidung von suchtfördernden Umständen hinwirken.

Zur Suchtprävention gehört aber nicht nur Aufklärung und Vorbeugung, sondern auch die Förderung von

Suchtprävention darf auch nicht isoliert betrachtet werden, sondern muss Teil einer umfassenden Sozial- und Gesundheitspolitik sein.

Reine Abschreckung ist keine wirkungsvolle Prävention.

Präventive Maßnahmen müssen auf Dauer angelegt sein und dürfen nicht als Einzelmaßnahme begrenzt bleiben.

Bei der Prävention sind alle Suchtmittel und nicht nur die illegalen Drogen zu berücksichtigen. Es geht darum, dass insgesamt gegen Suchtmittel wie Alkohol, Nikotin und Psychopharmaka vorgegangen wird. Dazu ist ein umfassendes Gesamtkonzept Suchtprophylaxe notwendig. Zu dessen Unterstützung ist auf die Einschränkung der Werbung für Suchtmittel aller Art hinzuwirken.

2. "Weiche Drogen"

Ausgangspunkt muss die Erkenntnis sein, dass es der Gesellschaft nicht dienlich ist, wenn außer den vorhandenen legalen Drogen weitere derzeit illegale Drogen legalisiert

und verbreitet werden.

Sogenannte "weiche Drogen" können der Einstieg in den späteren Konsum harter Drogen sein. Ihre völlige Freigabe verspricht keinen Erfolg bei der Drogenabwehr. Es muss vielmehr alles getan werden, um den Einstieg in den Drogenkonsum und die Beschaffung von Drogen zu erschweren und gesellschaftlich zu ächten.

Dem Charakter rechtsstaatlichen Strafens als ultima ratio entspricht es jedoch, den Umgang mit kleinen Mengen - z. B. bis 30 Gramm - von strafrechtlicher Verantwortung freizu- stellen. Eine dementsprechende Einschränkung des § 29 Abs. 1 Betäubungsmittelgesetz sollte aber von der Schaffung eines Bußgeldtatbestandes, der dem Opportunitätsprinzip unterliegt, begleitet werden. Auf diese Weise würden einerseits Polizei und Staatsanwaltschaft von der Verfolgung von Bagatellkriminalität befreit, andererseits aber das gesellschaftliche Unwerturteil im Rahmen völkerrechtlicher Bindungen in der Bundesrepublik Deutschland aufrecht erhalten werden.

3. Anlaufstellen

Hierzu gehören:

Um dem wachsenden Drogenproblem zu begegnen, ist es erforderlich, den Gefährdeten oder bereits Abhängigen in seinem Umfeld zu erreichen:

Streetwork und niedrigschwellige Beratungsstellen erreichen den Gefährdeten oder Drogenkranken zuerst. Durch Gespräch, Spritzentausch sowie ärztliche Beratung kann persönlicher Kontakt mit den Betreuern und damit Vertrauen und die Bereitschaft zum Entzug oder zur Therapie hergestellt werden.

Der Ausbau von Streetwork und niedrigschwelligen Beratungsläden ist zwingend, um möglichst rund um die Uhr für die oft erst am Beginn ihrer "Suchtkarriere" stehenden Sucht- kranken erreichbar zu sein. Von dort können sie dann weitervermittelt werden.

Wir fordern deshalb:

Die Erfahrungen aus Hessen zeigen, dass in diesen Übergangseinrichtungen auch erfolgreich Kurztherapie möglich ist, wenn eine weitere ambulante Betreuung gewährleistet ist.

Hierzu ist notwendig

4. Therapie

Voraussetzung für eine erfolgversprechende Therapie sind entsprechend ausgebildete Therapeuten. Aus- und Weiterbildung von Ärzten muss für die Tätigkeit in diesem Bereich vorgesehen und verbessert werden. Sinnvoll wäre ein Lehrstuhl für "Suchtmedizin".

Das Beratungs- und Betreuungssystem für Abhängige muss drastisch ausgebaut werden. Insbesondere muss eine erhebliche Aufstockung von ambulanten und stationären Therapieplätzen mit Kontrollmöglichkeiten erfolgen. Für jeden therapiebereiten Patienten muss nach Möglichkeit kurzfristig ein Therapieangebot bereitstehen. Außerdem müssen unterschiedliche Substitutionsmethoden vermehrt angeboten werden. Wenn die Kostenträgerschaft nicht kurzfristig geklärt werden kann, dann muss der Staat vorübergehend in Vorleistung treten.

Wichtig ist, dass alle Hilfsangebote vielfältig und regional organisiert werden. Die unterschiedlichen Hilfsangebote sind in einem sinnvollen System miteinander zu vernetzen.

5. Substitution und Überbrückungstherapie

Es gibt eine wachsende Zahl von Abhängigen, die mit den bestehenden Möglichkeiten nicht erreicht werden.

Es sind dies jene Abhängigen, die die bestehenden Wartezeiten auf einen Therapieplatz nicht überbrücken können, oder aber sie haben erfolglose Therapieversuche hinter sich oder sie wurden durch das vorhandene Hilfssystem nicht erreicht. Viele von ihnen sind HIV-positiv ohne jede Perspektive, oder aber sie sind in den Teufelskreis der sozialen Verelendung, der Beschaffungsprostitution und der Beschaffungskriminalität geraten; nicht selten sind diese dann auf Grund fehlender Perspektiven vom Drogentod bedroht.

Auch die Verunsicherung in der Öffentlichkeit durch wachsende Kriminalität kann so nicht mehr hingenommen werden.

Deshalb fordert die F.D.P. , eine Substitutionstherapie bei Abhängigen mit Methadon nach ärztlicher Indikation und strenger Kontrolle und begleitender Beratung durchzuführen.

Als Ziel verfolgt wird dabei nicht nur der Ausstieg aus der Droge, sondern auch den Teufelskreis von Kriminalität und Beschaffungsprostitution, sozialem Abstieg, HIV-Übertragung und Drogentod zu verhindern.

Die bloße Methadon-Verabreichung nach ärztlicher Indikation unter strenger Kontrolle ist kein Heilmittel, kein Königsweg aus der Sucht, aber sie ermöglicht die soziale Indikation und damit den Anreiz zu einem suchtfreien Leben. Sie kann Wartezeiten überbrücken und den Drogenmarkt schwächen.

Die Zulassung zur Verabreichung von Methadon für Ärzte ist in den Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Einführung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, NUB-Richtlinien, in der Fassung vom 7. August 1992 festgelegt. Diese Richtlinien werden landes- und bundesweit unterschiedlich gehandhabt und sind repressiv, so dass nur ein ganz begrenzter Personenkreis mit Methadon behandelt werden kann. Es besteht die Gefahr, dass andere, schädlichere Ersatzstoffe verschrieben werden, die leichter zugänglich sind. Diese erhöhen das Risiko unsachgemäßer Substitution mit lebensbedrohenden Risiken. Deshalb erwarten wir,

Da die Wartezeiten für therapiewillige Süchtige zu lange sind, bis sie einen Therapieplatz antreten können, ist eine "Übergangstherapie" notwendig.

Der Bund schafft über eine Änderung von § 3 Abs. 3 BTMG die rechtlichen Voraussetzungen dafür, dass Drogen und/oder Drogenersatzstoffe zu Therapiezwecken unter strenger ärztlicher Kontrolle an Abhängige kontrolliert abgegeben werden können.

Während dieser "Übergangstherapie" erfolgt neben der Verabreichung der Drogen und/oder Drogenersatzstoffe auch eine umfassende Beratung des Süchtigen.

6. Abgabe von Drogen unter medizinischer Kontrolle

Die F.D.P.-Bundestagsfraktion wird aufgefordert, die rechtlichen Voraussetzungen zu treffen, dass medizinisch festgestellte Abhängige harter Drogen die Möglichkeit haben von speziell dafür ausgebildeten Ärzten Medikamente gegen die Sucht (Substitutionsmittel z. B. Methadon) oder falls die Süchtigen zunächst noch nicht therapiefähig oder -willig sind, auch harte Drogen (Heroin etc.) unter medizinischer Kontrolle erhalten.

Kostenlose, strengkontrollierte Verabreichung von Rauschmitteln, ausschließlich an Süchtige bei Aufrechterhaltung der Bestrafung aller nicht am Verfahren teilnehmenden Personen nach dem Betäubungsmittelgesetz, ist deshalb der richtige Weg. Die Kapazität und die Konzentration der Polizei reicht dann aus, die illegalen Anbieter zu verfolgen.

Repressionen gegen das illegale Angebot und ärztliche Versorgung der Kranken sind zwei sich ergänzende Teile einer wirksamen Strategie.

7. Drogen im Strafvollzug

Drogenkonsum in Strafvollzugsanstalten läßt sich auch bei strengsten Sicherheitsvorkehrungen nicht verhindern. Daher sind erheblich verbesserte Therapieangebote im Strafvollzug dringend notwendig.

8. Nachsorge

Von ganz entscheidender Bedeutung ist die sich an eine Therapie anschließende Nachsorge. Von einer umfassenden Nachsorge hängt es ab, ob die noch immer viel zu hohen Rückfallquoten nach der Entwöhnungsbehandlung reduziert werden können. Ziel der Nachsorge ist die persönliche Stabilisierung und die Integration in die Gesellschaft. Hierbei geht es um die Vermittlung von Wohnraum und Arbeit und um weitergehende Beratung und psycho-soziale Begleitung.

9. Forschung

Dringend notwendig sind Forschungsprogramme, die sich auf die gesamte Suchtproblematik beziehen. Dies beginnt bei der Erforschung der Gründe für die Wege in die Sucht. Erforscht und dokumentiert werden müssen die unterschiedlichen Präventionsmaßnahmen und die verschiedenartigen Wege der Therapie.

Gegenstand der Forschung sollte auch sein:

1O.Finanzielle Forderungen

Auch angesichts der Finanzknappheit der öffentlichen Kassen darf im Bereich der Drogenhilfe nicht der Rotstift regieren. Einsparungen bei der Prävention, bei der Therapie und im Bereich der Forschung würden mit Sicherheit nur höhere Folgekosten nach sich ziehen. Jugendhäuser, Übergangseinrichtungen, betreutes Wohnen, Beratungsstellen, Therapieeinrichtungen etc. sind unverzichtbare Einrichtungen und deshalb weiterhin zu fördern.