Europapolitik

(Beschlüsse des 86. Ordentlichen Landesparteitages am 4./5. Januar 1996 in Stuttgart)

Die europäische Einigung ist und bleibt erste Priorität der deutschen Außenpolitik. Die Europäische Einigung war die Antwort auf beides: die Katastrophe des 2. Weltkriegs und die Ost-West-Konfrontation. Nach dem Fall der Mauer steht Europa vor seiner zweiten historischen Herausforderung, der Überwindung der Teilung Europas und der Schaffung eines neuen, freien, vereinten Europas. Unsere Vergangenheit verpflichtet uns besonders für die europäische Zukunft. Deutschland muss Motor für die europäische Integration und das weitere Zusammenwachsen unseres Kontinents sein.

Baden-Württemberg ist eine Zentralregion Europas von herausragender Bedeutung. In keinem anderen Land der Bundesrepublik

Kein anderes Land liegt so im Schnittpunkt der europäischen Verkehrsströme.

Gerade die Grenzlage des Landes in seiner Nachbarschaft zu Frankreich, zur Schweiz und zu Österreich birgt ein hohes Potential besonderer Standortvorteile

innerhalb des sich entwickelnden Europas. Die günstigen Verkehrsanbindungen an die großen Wirtschaftszentren Europas und der hohe Entwicklungsstand des Industriestandorts Baden-Württemberg verpflichten zu besonderer Hinwendung zu grenzüberschreitender Zusammenarbeit.

Baden-Württemberg ist daher in einem besonderen Maße aufgerufen, durch eine aktive Europa-Politik den Gestaltungsrahmen des Vertrags von Maastricht durch konkrete, ragionenbezogene Maßnahmen mit Leben zu erfüllen.

Für eine progressive Integration Europas

Die Liberalen bekennen sich zu dem Ziel der Europäischen Union in Form eines Bundesstaates mit eigener Verfassung. Diese muss dem Europäischen Parlament als einzig direkt gewählter Vertretung der Bürger Europas volle Kompetenz geben, ebenso aber eine am Subsidiaritätsprinzip orientierte Kompetenzverteilung zwischen EU und Mitgliedstaaten festschreiben.

Die F.D.P. hält an ihrer Überzeugung fest, dass auch in Zukunft die europäische

Integration mit allen ihren Mitgliedstaaten verwirklicht werden soll. Wir Liberale wollen ein Europa gleichberechtigter Partner mit handlungsfähigen Strukturen und dem Ziel einer Politischen Union. Wir werden deshalb alle Versuche entschieden bekämpfen, die durch Renationalisierung die erreichten Integrationserfolge zurückschrauben wollen oder mit Überlegungen für ein Kerneuropa riskieren, dass die europäische Einigung als Privileg weniger integrationsfähiger Staaten ohne Rücksicht auf die anderen betrieben wird.

Mit der Idee einer progressiven Integration wollen wir das gesamte Potential des vereinten Europas für die gemeinsame Gestaltung unserer Zukunft nutzen. Eine progressive Integration richtet sich nach folgenden Grundsätzen:

Für die Verwirklichung der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion

Deutschland als bedeutende Exportnation, insbesondere Baden-Württemberg braucht die Währungsunion. Die Währungsunion ist die logische Vollendung des Binnenmarkts. Ein Scheitern der WWU würde Europa weit zurückwerfen: fehlt die Perspektive einer gemeinsamen Währung, bräche auch das EWS letztlich auseinander. Wechselkursschwankungen und Spekulationswellen würden Europa erneut erschüttern. Abwertungen wären wieder ein wirtschaftspolitisches Instrument. Die Bemühungen, den Schuldenstand zurückzuführen, die Privatisierung und Deregulierung konsequent voranzutreiben, würden erlahmen, neue Spielräume, die Steuern zu senken, gingen damit verloren, mit allen Folgen für die Beschäftigung.

Die Europäische Währungsunion liegt gleichermaßen im europäischen und im nationalen Interesse.

Die F.D.P. hält an dem im Maastrichter Vertrag festgelegten Zeitplan fest. Änderungen wären sowieso nur durch Vertragsänderungen möglich.

Die Liberalen werden sich jedem Versuch der Aufweichung der Stabilitätskriterien widersetzen und ihre Zustimmung zum Eintritt Deutschlands in die Währungsunion ausdrücklich von der tatsächlichen Erfüllung der strengen Konvergenzkriterien durch die Teilnehmerländer abhängig machen. Wer diese Hürde nicht nehmen kann, darf keine verbilligten Eintrittskarten erhalten. Rabatte können nicht gewährt werden.

Es muss auch klar sein, dass die Eintrittsbedingungen Minimalwerte sind und die Konvergenzanstrengungen dort nicht enden dürfen. Deshalb muss die Ausgabenpolitik in allen Mitgliedsländern strengen gemeinschaftlichen Regeln und Kontrollen unterliegen.

Für die F.D.P. heißt europäische Wirtschaftspolitik privates, dezentrales und wettbewerbsorientiertes Wirtschaften. Ihr Leitbild ist die freie, ökologische und sozial verpflichtete Marktwirtschaft. Zur Gewährleistung und Sicherung des freien Wettbewerbs innerhalb der Europäischen Union fordert die F.D.P. deshalb ein unabhängiges Europäisches Kartellamt.

Die F.D.P. lehnt jede Form wettbewerbsverzerrender Industriepolitik und staatlicher Subventionierung ab. Nur so kann der Mittelstand die große Chance nutzen, die ihm durch die Wirtschafts- und Währungsunion eröffnet werden.

Für die Verwirklichung einer europäischen Sozialpolitik

Mit der Wirtschafts- und Währungsunion muss auch die soziale Dimension der Union weiterentwickelt werden. Die F.D.P. fordert als Kernstück eines europäischen Sozialsystems ein übersichtliches und bürokratisch einfaches System staatlicher Abgaben und Transferzahlungen (Bürgergeld). Für sie steht dabei die Stärkung der Selbstverantwortung der Bürger im Mittelpunkt. Ein ausgeglichenes Sozialsystem in Europa wird besser, schneller und ökonomischer durch die freie Konkurrenz sowohl der privaten Anbieter sozialer Leistungen als auch der Einzelstaaten und ihrer Sozialsysteme erreicht als durch ein einheitliches Sozialnetz.