Der Gewaltbereitschaft von Jugendlichen begegnen

(Beschluss des 82. Ordentlichen Landesparteitages am 5. Januar 1993 in Stuttgart)

Gewalt ist die fühlbarste Form der Freiheitsverletzung. Es müssen Wege gefunden werden, Gewalt zu vermeiden und die Gewaltbereitschaft Jugendlicher zu verringern. Dazu bedarf es eines Konzeptes, das alle Politikbereiche integriert.

Deutlich muss zwischen der großen Mehrheit der Jugendlichen und kleinen rechtsradikalen Gruppen unterschieden werden. Wachsende Ausländerfeindlichkeit und Rechtsradikalismus werden auch von den Jugendlichen selbst zunehmend als bedrohliches gesellschaftliches Problem wahrgenommen (IBM Jugendstudie 1992). Rechtsradikale nutzen Orientierungslosigkeit Jugendlicher aus; sie bieten "action", Gruppenbildung sowie scheinbar einfache Antworten auf drängende Probleme an. Alle Mitläufer als "Rechte" zu bezeichnen, wäre verantwortungslos und würde sie in die Ecke drängen, in der die Rechten sie haben wollen. Junge Menschen müssen aus dieser Ecke heraus, sonst besteht die Gefahr, dass sie sich mit dem Rechtsradikalismus dauerhaft identifizieren.

  1. Den Rechtsstaat verteidigen
  2. Mit Polizei und Justiz lassen sich lediglich die Symptome der Gewaltbereitschaft bekämpfen, nicht aber ihre Ursachen. Dennoch muss die Gewalt in Deutschland mit der ganzen Konsequenz des Rechtsstaates bekämpft werden.

    Polizei und Justiz sind in allen Bundesländern personell und sachlich so auszustatten, dass Gewalttaten unverzüglich verfolgt und geahndet werden.

    Der Verfassungsschutz hat die Überwachung von rechtsradikalen Rädelsführern und ihrer Organisationen zu intensivieren.

    Die Gesetze gegen Gewalttäter und ihre Unterstützer (z.B. Landfriedensbruch, Volksverhetzung) müssen konsequent angewandt werden.

    Der Rechtsstaat darf keinesfalls vor der Gewalt zurückweichen und den Gewalttätern Erfolgserlebnisse vermitteln. Die Räumung von Asylbewerberheimen ist daher ebenso abzulehnen wie die Änderung von Gesetzen unter dem Druck der Straße.

    2. Schulische Bildung contra Gewalt

    Bildungspolitik setzt vor allem auf langfristige Wirkung, auf das Wecken von mehr Verantwortungsbewusstsein, das Erlernen von mehr Toleranz sowie von demokratischen "Spielregeln", die das friedliche Zusammenleben in einer offenen Gesellschaft auch bei wirtschaftlichen Problemen ermöglichen. Neben Eltern und gesellschaftlichem Umfeld ist die Schule ein entscheidender Faktor, an dem liberale Politik ansetzen muss.

    Die Schule soll deshalb auch "Lebensraum" sein. Vielfältige Arbeitsgemeinschaften und offene Veranstaltungen an Nachmittagen gehören ebenso dazu wie differenzierte und bedarfsgerechte Betreuungsangebote bis hin zu Ganztagesschule als Angebot.

    Auf keinen Fall darf an der Bildung gespart werden. Sozialer Isolation kann nur in kleinen Klassen und überschaubaren Schulen begegnet werden. Eine flexiblere Gestaltung des Unterrichtes und das Reagieren auf aktuelle Probleme, vor allem im Rahmen der politischen Bildung, steigern das Interesse und die Diskussionsbereitschaft der Schüler. Der enge Kontakt zwischen Eltern, Schülern und Lehrern kann Erfolgsdruck, Versagensangst und Aggressivität entgegenwirken.

  3. Bessere Aufklärungshilfen für Familien
  4. Die Gewaltbereitschaft von Jugendlichen hat ihre Wurzeln oft schon in der Kindheit. Konflikte zu bewältigen, Gegensätze auszutragen und auszuhalten, muss aber - neben dem sozialen Umfeld von Freundschaften, Bekanntschaften und der Schule - vor allem in der Familiengemeinschaft gelernt werden.

    Da viele Eltern sich bei dieser Aufgabe überfordert fühlen, ist es eine politische Aufgabe, mehr Aufklärungshilfen für Familien, z.B. über ein verbessertes Angebot an Beratung zu geben. Ziel dieser Aufklärung muss sein

    - zu zeigen, wie Erziehung ohne Gewaltanwendung möglich ist,

    - wie menschliche Probleme untereinander gewaltfrei gelöst werden können,

    - wie Vorsicht geboten ist gegenüber Gewaltbeschreibungen und Gewaltanwendungen in den Medien (Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehen). Darüber hinaus muss der übermäßigen Gewaltdarstellung im Fernsehen begegnet werden.

  5. Berufliche Perspektiven für Jugendliche verbessern
  6. Um der Perspektivlosigkeit von Teilen der Jugend zu begegnen, ist die Ausbildungssituation und die anschließende Einstiegsphase in den Beruf nachhaltig zu verbessern. Wir fordern deshalb

    - eine verstärkte vorausschauende Berufsorientierung in den allgemeinbildenden Schulen,

    - Ausbildungsplatzgarantien bei Privatisierungen,

    - verstärkt Ausbildungsgänge mit geringerem Theorienanteil für praktisch begabte Jugendliche im Rahmen einer Stufenausbildung

    - Förderung von Integrationsmodellen für Langzeitarbeitslose und Jugendliche ohne Ausbildung, insbesondere in selbstverwalteten Initiativen mit sozialpädagogischer Betreuung.

    sowie für die neuen Länder

    - befristete staatliche Lohnzuschüsse für Ausbildungsbetriebe,

    - Mobilitätshilfen bei notwendigem Ortswechsel,

    - nach einer Berufsausbildung befristete ABM, vor allem in wettbewerbsneutralen Bereichen (insbes. im Umwelt- und Sozialsektor).

  7. Freiheit gestalten helfen
  8. Jugendliche, die keine Möglichkeiten haben, ihre Freizeit sinnvoll zu gestalten und auch ihren Erlebnisdrang auszuleben, stehen in der Gefahr, Gewaltanwendung als willkommene Abwechslung, Gruppenerlebnis und Nervenkitzel zu verstehen. Die Jugendämter der Kommune sind gefordert, über die Verwaltung sozialer Not hinaus, Angebote für Kinder und Jugendliche zu schaffen.

    Die Kommunen werden aufgefordert, mit Hilfe von streetworkern und der Einrichtung von Jugendtreffs auch unkonventionelle Bildungs- und Freizeitangebote zu machen. Jugendliche erhalten so einen Treffpunkt und die Einbindung in ein soziales Umfeld. Wenn sie zudem bei der Gestaltung mitwirken, lernen sie auch Verantwortung zu übernehmen.

    Darüber hinaus sind Fan-Projekte ein zu förderndes Mittel, um Gewalt im Umfeld von Sportveranstaltungen abzubauen.

    Das Bundesministerium für Jugend und Frauen wird aufgefordert, die Mittel für den Erhalt von Jugendfreizeiteinrichtungen zu erhöhen, bis die Kommunen in der Lage sind, diese selbst zu finanzieren.

    Die Bundesregierung wird aufgefordert, das Bundesprogramm "Aufbau freier Träger" (ATF), das die Jugendarbeit in den neuen Bundesländern fördert, ungekürzt fortzusetzen.

    Alle öffentlichen Träger der Jugendarbeit werden aufgefordert, ihren Zuschüssen ein Konzept zugrunde zu legen und die Förderungen zu verstetigen.

  9. Politische Bildung contra Gewalt
  10. Auch jenseits der Schulen muss politische Bildung greifen. Insbesondere müssen sich die parteinahen Stiftungen für neue Zielgruppen öffnen. Themenseminare über durchaus wichtige, aber sehr spezielle Politikbereiche sind Luxus, solange vielen jungen Menschen noch nicht einmal elementare politische Verhaltensweisen und Mitwirkungsmöglichkeiten vermittelt werden können. Das neue nationale Selbstwertgefühl von Jugendlichen muss wahrgenommen werden. Die politischen Stiftungen und die Bundeszentrale für politische Bildung werden aufgefordert, ihr Angebot den neuen Erfordernissen anzupassen, auf Jugendliche auch an sozialen Brennpunkten und in ihrer Sprache einzugehen. Der Bundesinnenminister wird aufgefordert, bei der Mittelvergabe für politische Bildung verstärkt auch nichtparteinahe Stiftungen und Fortbildungswerke zu berücksichtigen.

  11. Begegnungen fördern, Vorurteile abbauen

Als "selbstbewusst, konstruktiv kritisch, realistisch und informiert" werden die Jugendlichen im geeinten Deutschland in der IBM-Jugendstudie 1992 bezeichnet. Dennoch sei das Bewusstsein der Heranwachsenden für die aktuellen Probleme sehr hoch. An diese Grundbefindlichkeit sollte angeknüpft werden.

Vorurteile und Gewaltbereitschaft gegenüber Minderheiten und Andersdenkenden sind häufig durch persönliche Begegnung abzubauen. Ein Dialog mit Angehörigen von Minderheiten (Asylbewerbern, Ausländern, religiösen Gruppen etc.) sollte sowohl in Schulen als auch in der freien Jugendarbeit geführt werden.

Sogenannte "Runde Tische der Jugend", wie es sie in Sachsen bereits gibt, ermöglichen miteinander - statt übereinander - zu reden. Solche Gesprächskreise könnten Ausgangspunkt für gemeinsame Freizeitgestaltung, Ort für politische Auseinandersetzung sowie Basis für mehr Verständnis sein. Die Gesprächskreise sollten möglichst dezentral und flächendeckend gegründet werden. Initiatoren und Gastgeber könnten Schulen, Kirchen, Jugendclubs und andere Träger sein. Insgesamt ist es wichtig, den Dialog mit Jugendgruppen zu fördern. Extreme politische Ansichten in die politische Diskussion miteinzubeziehen, heißt nicht, sie zu akzeptieren. Eine Auseinandersetzung auf diesem Weg ist auf jeden Fall wünschenswerter, als wenn Extreme sich nur durch Gewalt öffentliche Beachtung verschaffen können. Hier gibt es auch für die politische Jugendorganisation vor Ort viel zu tun.