Leitlinien liberaler Europapolitik
(Beschluss des 84. Ordentlichen Landesparteitages am 5. Januar 1994 in Stuttgart)
Baden-Württemberg ist eine Zentralregion Europas von herausragender Bedeutung. In keinem anderen Land der Bundesrepublik
Kein anderes Land liegt so im Schnittpunkt der europäischen Verkehrsströme.
Gerade die Grenzlage des Landes in seiner Nachbarschaft zu Frankreich, zur Schweiz und zu Österreich birgt ein hohes Potential besonderer Standortvorteile innerhalb des sich entwickelnden Europas. Die günstigen Verkehrsanbindungen an die großen Wirtschaftszentren Europas und der hohe Entwicklungsstand des Industriestandorts Baden-Württemberg verpflichten zu besonderer Hinwendung zu grenzüberschreitender Zusammenarbeit.
Baden-Württemberg ist daher in einem besonderen Maße aufgerufen, durch eine aktive Europa-Politik den Gestaltungsrahmen des Vertrags von Maastricht durch eine aktive Europa-Politik den Gestaltungsrahmen des Vertrags von Maastricht durch konkrete, regionenbezogene Maßnahmen mit Leben zu erfüllen.
Die Liberalen bekennen sich zu dem Ziel der Europäischen Union in Form eines Bundesstaates. Die Verfassung ist einem Volksentscheid zu unterbreiten. Sie muss eine klare Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Union, den Nationalstaaten und den Regionen enthalten. Dabei müssen nach dem Subsidiaritätsprinzip die Kompetenzen der europäischen Organe auf jene Probleme beschränkt werden, die ausschließlich oder wesentlich besser auf europäischer Ebene gelöst werden können.
Unabdingbare Voraussetzung ist der Ausbau demokratischer Strukturen in der EU, insbesondere die wesentliche Stärkung des Europäischen Parlaments.
Unverzichtbar sind für uns weiter:
Zu einem wirtschaftlich stabilen Europa gehört eine gemeinsame Währungs-, Wirtschafts- und Finanzpolitik. Die Konvergenzkriterien des Maastrichter Vertrages müssen dabei strikt eingehalten und dürfen nicht zugunsten politischer Erwägungen wirkungslos gemacht werden. Die politische Unabhängigkeit der europäischen Zentralbank muss gewährleistet sein. Die ganz wesentlich von Bundesaußenminister Dr. Klaus Kinkel beeinflusste Entscheidung für Frankfurt als Sitz der Zentralbank ist eine Entscheidung für deren Unabhängigkeit und für die Stabilität einer künftigen gemeinsamen Währung.
Offenheit des Binnenmarktes nach außen muss das Ziel sein. Eine protektionistische Festung Westeuropa ist unvereinbar mit internationalem Wettbewerb. Nach innen darf europäische Wirtschaftspolitik eine gewachsene wettbewerbspolitische Landschaft nicht zerstören. Jede Form der wettbewerbsverzerrenden Industriepolitik, Subventionen und des Staatsinterventionismus ist abzulehnen. Auch dürfen Strukturhilfen auf europäischer Ebene nicht zu Wettbewerbsverzerrungen führen. Insbesondere dürfen keine Benachteiligungen für die in Baden-Württemberg traditionell wichtigen kleineren und mittleren Unternehmen bei der Mittelvergabe und Ausschreibungspraxis entstehen.
Von zentraler Bedeutung ist hier, dass nicht nur gemeinsame Richtlinien existieren, sondern dass deren Umsetzung und Ausführung in allen Mitgliedsstaaten gleich erfolgt. Wir fordern ein von der EU-Kommission unabhängiges europäisches Kartellamt.
Das Grundziel der Liberalen in Europa ist: Ökologisch, marktwirtschaftlich und sozial fundierter Wohlstand an der Schwelle zum neuen Jahrtausend bei voller Nutzung selbstregulierender marktwirtschaftlicher Mechanismen. Für Baden-Württemberg, das Land der Tüftler, ist dabei klar, dass Ökologie und Forschung sowie Spitzentechnologie Hand in Hand gehen müssen.
Umweltplanung ist Zukunftsplanung. Die Entwicklung gemeinsamer Umweltqualitätsstandards wäre ein bedeutender Beitrag für die europäische Umweltgemeinschaft. Kein Bürger einer Grenzregion darf in seinem Recht auf eine intakte Umwelt durch nationale Schranken benachteiligt werden. Standortplanungen müssen nach einheitlichen Umweltnormen erfolgen.
Die Landwirtschaft stellt einen unersetzlichen Wirtschaftszweig dar mit eigenständig-unternehmerischem Profil. Da die Europäische Gemeinschaft die Landwirte durch ihre jahrzehntelange Politik zu der jetzt praktizierten und aus öffentlichen Kassen finanzierten Überschussproduktion animiert hat, wäre es falsch, diesen Berufsstand durch ersatzlose Streichung aller Agrarsubventionen zum alleinigen Leidtragenden zu machen. Der mittelfristig sicherlich notwendige Abbau dieser staatlichen Preissubventionen muss daher durch flächenbezogene Transferleistungen kompensiert werden, die Anreize schaffen für extensive Bewirtschaftungsformen und die Wahrnehmung landschaftspflegerischer Aufgaben entlohnen.
Dabei sind regionale Spielräume innerhalb der europäischen Agrarpolitik zu erhalten und auszubauen wie mit dem MEKA-Programm in Baden-Württemberg, das heute schon zur Hälfte aus Brüssel finanziert wird.
Dazu gehören die Wahl von bi- bzw. trinationalen Regionalräten (Bodensee-Hochrhein-Rat, Oberrhein-Rat) mit eigener Zuständigkeit für die grenzüberschreitende Raumplanung, den Umweltschutz, den Katastrophenschutz und die Krankenhausplanung. Diese Regionalräte müssen auch in die Weiterentwicklung bestehender Teilentwicklungskonzepte der EU, wie etwa das Projekt "Oberrhein-Mitte-Süd" einbezogen werden.
Das Subsidiaritätsprinzip beinhaltet eine weitgehende Kompetenz der Kommunen. Die Schaffung einer föderalen europäischen Verfassung bietet die Gewähr, dies zu verwirklichen. Das neue Unionsrecht darf nicht zur Aushöhlung der kommunalen Selbstverwaltung führen. EU-Richtlinien und -Verordnungen müssen die Gemeinden schnell und direkt erreichen, Projekt- und Programmzuschüsse müssen transparent gemacht werden, die Ausführung ist stärker zu kontrollieren.
Grenzüberschreitung bedingt Verkehr. Diesseits der Ausbauvorhaben bei den großen europäischen Verkehrsachsen wollen interregionale Verkehrsprobleme gelöst werden. Beispielsweise wartet das Projekt "Euro-Rhein" auf seine Realisierung. Andere Projekte wie die Regio-S-Bahn im Großraum Basel, die Fortentwicklung der Tarifgemeinschaft Straßburg-Ortenau und die grenzüberschreitende Abstimmung der Fahrpläne versprechen durchschlagende Verbesserungen im öffentlichen Personennahverkehr. Die Rheinhäfen und die Flughäfen Basel und Straßburg sind zu engerer Kooperation und Aufgabenteilung zur Erschließung neuer Kapazitäten aufgefordert.
In allen Schulen müssen europäische Geschichte und europäische Kultur einen hohen Stellenwert erhalten. Das Thema "Europäische Integration" muss Schwerpunktthema in Geschichte und Gemeinschaftskunde werden. Darüber hinaus soll interkulturelle Erziehung fester Bestandteil der Bildungspläne sein.
Mehrsprachigkeit spielt eine zunehmend wichtige Rolle. Deshalb ist das Modell "Lerne die Sprache des Nachbarn" nicht nur in der Grundschule anzubieten, die Möglichkeit, Französisch als erste Fremdsprache zu erlernen, ist zu erweitern. Austauschprogramme sind weiter auszubauen mit dem Ziel, jedem Schüler während seiner Schulzeit die Möglichkeit eines Auslandsaufenthalts zu geben.
Die Anerkennung auch berufsbildender Abschlüsse, die Ausweitung von Austauschprogrammen bei Auszubildenden und Praktikanten erhöhen die berufliche Mobilität. Für den Bereich der Ingenieurausbildung brauchen wir endlich die Einrichtung der trinationalen Fachhochschule.
Nach dem Wegfall innereuropäischer Grenzkontrollen müssen für die Arbeit der Polizei neue Strukturen geschaffen werden. Wir fordern gemeinsam besetzte Polizeidienststellen im Grenzbereich, das gegenseitig gewährleistete Recht für die Polizei, Straftäter über die Grenze hinweg verfolgen zu können, die schnelle Umsetzung des Schengener Abkommens und den baldigen Ausbau von EUROPOL zu einer europäischen Bundespolizei. Sie muss mit operativen Befugnissen auf einer eigenen unionseinheitlichen Gesetzesgrundlage ausgestattet werden.
Mit dem grenzüberschreitenden Handel steigt auch das Informationsbedürfnis der Verbraucher. Klare Kennzeichnungen, eine intensive Verbraucherberatung und einheitlichere lebensmittelrechtliche Bestimmungen - unter Aufrechterhaltung der regionalen Vielfalt - sind unabdingbare Voraussetzungen.
Für die rund 50.000 Grenzgänger gilt es, arbeits- und sozialrechtliche Vorschriften der beteiligten Länder anzugleichen.
Die öffentliche Meinung ist für eine vielgestaltige Demokratie zwingend notwendig. Dieser Grundsatz gilt auch für ein demokratischeres Europa. Auf europäischer Ebene fehlt diese öffentliche Meinung allerdings bisher. Über die Brüsseler Entscheidungen wird nur aus nationaler Sicht berichtet. Die Entstehung eines europäischen Bewusstseins wird so unmöglich gemacht.
Deshalb fordern die Liberalen die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen für die Schaffung einer europäischen Medienlandschaft, welche die Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit und damit eines europäischen Bewusstseins fördert.
Es gibt keine Alternativen zur europäischen Einigung. Jede Stagnation oder jeder Rückschritt wäre gerade für uns in Baden-Württemberg politisch, wirtschaftlich und sozial eine Katastrophe.
Die baden-württembergischen Liberalen kämpfen deshalb für die Europäische Union, für einen Bundesstaat, der demokratisch ist, der den Bezug der Bürger zu ihrer Umgebung nicht einschränkt, sondern stärkt, der Gemeinsames schafft, ohne gewachsene Traditionen in Frage zu stellen, für einen Bundesstaat, der von seinen Bürgerinnen und Bürgern akzeptiert und unterstützt wird.
Dafür treten wir an, dafür werden wir kämpfen.