Positionspapier des baden-württembergischen Landesvorsitzenden und F.D.P.-Präsidiumsmitglied Dr. Walter Döring zu:


"Vom Wohlfahrtsstaat zum marktwirtschaftlichen Sozialstaat"

10 Thesen für eine große Sozialreform

Vorbemerkung:

Die Krise des Sozialstaates zeigt sich am deutlichsten in der katastrophale Lage der Staatsfinanzen. Die Verbindlichkeiten der öffentlichen Hand sind zwischen 1949 und 1989 von 20 auf 900 Mrd. DM angewachsen. In den folgenden 6 Jahren hat sich die Schuldenlast verdoppelt. Die Ausgaben für den Sozialstaat 1996 entsprachen in etwa einem Drittel der volkswirtschaftlichen Gesamtleistung Ost- und Westdeutschlands. Jede 3. Mark in unserem Staat wird für "Soziales" ausgegeben. Die Summe aller Sozialleistungen hat 1995 rd. 1.106 Mrd. DM betragen, damit führt die Bundesrepublik Deutschland in der "sozialen Weltmeisterschaftstatistik".

Trotz dieser bemerkenswerten Haushaltszahlen stiftet der ausgebaute Sozialstaat weder Identität noch Solidarität. Der Sozialstaat ist ein recht undurchsichtiger bürokratischer, in vielem auch ungerechter, unpersönlicher Verteilungsmechanismus. Den Bürgern des ausgebauten Sozialstaates entgleitet allmählich die Erkenntnis, daß das Lebensniveau der Mehrheit ganz wesentlich vom Sozialstaat getragen wird.

Der Sozialstaat ist inzwischen derart ausgeweitet worden, daß heute breite Schichten mit mittleren Einkommen zu Nutznießern der sozialen Sicherungssysteme geworden sind. Der Sozialstaat ist nicht mehr nur auf besonders schwache Randgruppen und Bedürftige ausgerichtet. Er ist längst zu einem Transferstaat geworden mit dem Ziel der Umverteilung nicht von den Reichen zu den Armen, sondern von Menschen mit vergleichbarem Lebensstandard untereinander. Ursache dafür ist die Tatsache, daß in der Vergangenheit in der Sozialpolitik mehr auf Quantität (für möglichst viele Menschen möglichst viele Leistungen) gesetzt worden ist und nicht auf Qualität (gezielter Einsatz für die Randgruppen und Bedürftigen).

Es kommt daher heute darauf an, die spezifischen Nachteile des deutschen Sozialstaatsmodells auszugleichen, ohne seine besonderen Vorzüge preiszugeben.

Statt einzelner "Reformvorhaben" im Bereich der sozialen Sicherung ("Arbeitslosen-hilfereform", "Gesundheitsreform", "Rentenreform" usw.), die das Reformetikett nicht in letzter Konsequenz verdienen, weil sie vor allem die Zweige der Sozialversicherung zurückstutzen, den Finanzierungszwängen technokratisch anpassen, Leistungen kürzen und Anspruchsvoraussetzungen verschärfen, bedarf es einer wirklichen Sozialreform: Sie muß den gesellschaftlichen Veränderungen tatsächlich Rechnung tragen.

Folgt man der historischen Dreistadientheorie, die Thomas H. Marshall entwickelt hat, so läßt sich die Durchsetzung der bürgerlichen Rechte dem 18. Jahrhundert, die Durchsetzung der politischen Rechte dem 19. Jahrhundert und Durchsetzung der sozialen Rechte dem 20. Jahrhundert zuordnen.

Die bürgerlichen, politischen und sozialen Rechte sind nicht vom Himmel gefallen, sondern wurden mühsam erkämpft. Wenn man heute dem Konzept der "Standortsicherung" folgt, unterbieten sich die Staaten, Regionen und Kommunen in einem Wettkampf um möglichst niedrige Steuern, Umweltauflagen und Sozialstandards. Statt zum Wohle all ihrer Bewohner/innen zu kooperieren, konkurrieren sie wahrscheinlich so lange gegeneinander, bis niemand mehr politisch handlungsfähig ist. Dieser Entwicklung muß für das 21. Jahrhundert eine Konzeption entgegengestellt werden, die es ermöglicht, potentielle Störgrößen in Staat und Gesellschaft zu minimieren.

Der Standortlogik gemäß muß der nach innen gerichtete Wohlfahrtsstaat heute von einem nach außen gewandten "Wettbewerbsstaat" (Hirsch 1995) abgelöst werden. Aus diesem Grundanliegen heraus sind die nachfolgenden Thesen formuliert worden.

These 1

Ein neuer Begriff von "Sozialstaat" ist einzufordern! Der Sozialstaat von morgen muß zu völlig neuen Prämissen kommen. Moderne Sozialpolitik darf weniger umverteilen, muß dafür aber die Chancen für alle verbessern. Der Begriff des "Sozialen" muß erweitert werden. Es geht nicht mehr nur um die Verteilung von staatlichen Leistungen! Der Sozialstaat von morgen muß u.a. Bildung, Chancengerechtigkeit, Mitbestimmung und Vermögensbeteiligung umfassen.

These 2:

Der Sozialstaat muß auf diesen entscheidenden und umfassenden Umbau vorbereitet werden.

Hierzu ist dringend erforderlich, daß das "Soziale" neu definiert wird. An dieser Aufgabe dürfen sich nicht nur Sozialpolitiker, sondern daran müssen sich auch Wirtschaftspolitiker beteiligen. Es geht um die Formulierung einer marktwirtschaftlichen Sozialpolitik, die Wesenselemente der Wettbewerbsgesellschaft in sich aufnimmt. Der Sozialstaat muß zukünftig den Gesetzen der Wirtschaftspolitik unterworfen werden, d.h. hier muß ein soziales Anreizsystem für mehr Leistung entstehen.

Wir brauchen die "Ökonomisierung der Sozialpolitik"!

Marktgesetze, Konkurrenzmechanismen und moderne Managementtechniken müssen auch Einzug in Gesellschaftsbereiche erhalten, die bisher davon frei waren oder - wie das Sozial- und Gesundheitswesen - sogar ein Gegengewicht dazu bildeten.

These 3:

Die Wirtschaftspolitik ist u.a. deshalb so erfolgreich, weil sie nach dem Grundsatz "keine Leistung ohne Gegenleistung" verfährt. Dieser Grundsatz muß auch in die Sozialpolitik eingeführt werden: Die Prämisse heißt dann: "Keine soziale Leistung ohne Gegenleistung".

Damit dieser Grundsatz verwirklicht werden kann, müssen zunächst alle versicherungs-fremden Leistungen aus der Sozialversicherung entfernt werden. So enthalten bereits heute schon Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung eine Reihe von Begünstigten, die in diese Versicherungszweige nicht einbezahlt haben. Alle Versicherungszweige sind im Hinblick auf eine entsprechende Bereinigung der versicherungsfremden Leistungen zu durchforsten.

These 4:

Die Sozialleistungen, die über die reine Sozialversicherung hinaus gehen, verfügen - wie bereits ausgeführt - nicht über den Grundsatz "Keine soziale Leistung ohne Gegenleistung". Deshalb muß bei folgenden Leistungen ebenfalls dieses Prinzip berücksichtigt werden:

- Der Arbeitslosenhilfe,
- der Sozialhilfe,
- der sozialen Wohnungs- und Wohnungsmarktpolitik,
- der Familienförderung und
- der Ausbildungsförderung.

Der Grundsatz "Keine soziale Leistung ohne Gegenleistung" sollte in den Leistungsgesetzen, die obiges umfassen, festgeschrieben werden. Wer nach diesem Modell z.B. Sozialhilfe bekommt, müßte dann aktiv zur Verbesserung seiner Lage - durch Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe oder dem Besuch einer Fortbildungs- oder Umschulungsmaßnahme oder einer Arbeit - beitragen (damit würde er eine adäquate Gegenleistung erbringen).

Gegenleistungen sind demnach - je nach Leistungsart -

- ein Arbeitsverhältnis,
- ein 620-Mark-Job,
- die Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe,
- die Aufnahme einer Therapie,
- eine Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahme,
- die Suche nach einer Arbeit,
- das Einzahlen von Beiträgen,
- ein zügig durchgeführtes Studium,
- Studiengebühren,
- Rückzahlung von Beiträgen usw.

Darüber hinaus müssen alle sozialen Leistungen lediglich auf Bedürftige oder Beitragszahler bezogen sein, d.h. z.B. kein Kindergeld für gut Verdienende.

Dieser Ansatz beinhaltet nicht nur potentielle Gegenleistungen der Leistungsempfänger, er beinhaltet auch das Vorhalten staatlicher Leistungen für entsprechende Gegenleistungen (z.B. Therapieplätze). Selbstverständlich sind von dem Prinzip "Gegenleistung" Menschen ausgenommen, die aus eigener Kraft keine Gegenleistung erbringen können.

These 5:

Direkte Sozialleistungen (Arbeitslosengeld, Bafög, Kindergeld, Wohngeld, Sozialhilfe usw.), die der Lebensabsicherung dienen, sollten auf einem möglichst hohem Niveau festgeschrieben werden. Dabei ist auch zu überlegen, ob nicht die bestehenden direkten Sozialleistungen auf ein höheres Niveau gebracht werden müssen, damit Armutsentwicklungen im Keim gestoppt werden. Wenn für die Sozialleistungen keine entsprechenden Gegenleistungen erbracht werden, werden sie im Verlauf auf 30 % gesenkt. Dies verpflichtet jeden Leistungsempfänger zur Eigeninitiative, zur Verbesserung seiner Lebensumstände.

These 6:

Ein höheres Niveau der direkten Sozialleistungen ermöglicht eine Reform des deutschen Arbeitsrechts, weil ein solides Fundament der persönlichen Absicherung zur Verfügung steht.

Die Massenarbeitslosigkeit in Deutschland hat viele Ursachen, eine stellt das deutsche Arbeitsrecht dar, nicht zuletzt der übersteigerte Kündigungsschutz. Den Schaden des übertriebenen Kündigungsschutzes haben die Arbeitslosen. Deshalb sollte der Kündigungsschutz stark reduziert werden. - (Modelle in Holland und Dänemark).

These 7:

Der Sozialstaat muß langfristig radikal umgebaut werden. Die direkten Sozialleistun-gen müssen zusammengefaßt und durch eine einzige Leistung - ein Bürger- geld - ersetzt werden. Die Vergabe erfolgt über die Finanzämter.

These 8:

Das Bürgergeld sollte wiederum von entsprechenden Gegenleistungen abhängig gemacht werden. Dies muß in einem entsprechenden "Bürgergeld-Gesetz" geregelt werden.

These 9:

Unter dem Motto "Vom Klienten zum Kunden" müssen die soziale Dienste umstrukturiert und zum Teil privatisiert werden. Die Konkurrenz zwischen Wohlfahrtsverbänden und kommerziellen Anbietern sowie zwischen privaten und gesetzlichen Krankenkassen sollte verschärft werden.

These 10:

Das System der Alterssicherung steckt in einer schwerwiegenden Krise, die durch eine regelrechte Flucht aus der gesetzlichen Rentenversicherung gekennzeichnet ist. Ursächlich hierfür ist, daß die "Verzinsung" der eingezahlten Rentenbeiträge inzwischen auf null Prozent abgesunken ist. Das Vorenthalten positiver Erträge kommt einer konfiskatorischen Besteuerung des im Laufe eines Arbeitslebens erworbenen "Rentenvermögens" gleich. Als marktwirtschaftlicher Ausweg aus dieser Misere kommt nur eine kapitalgedeckte Alterssicherung in Betracht. Diesen Übergang zu organisieren ist eine zentrale Aufgabe der Sozialpolitik der nächsten Jahre.

Schlußbemerkung

Zur Zeit sind über 90% aller Bundesbürger in das soziale Netz mit Leistungen wie Kindergeld, Krankengeld, Bafög, Arbeitslosengeld usw. einbezogen. Aus diesem Grund verteilt der Wohlfahrtsstaat an alle relativ wenig Mittel. Die Schlußfolgerung daraus ist:

Wenn an alle ein wenig verteilt wird, dann bleibt für die wirklich Bedürftigen zu wenig. Deshalb gefährdet nicht derjenige den Sozialstaat, der ihn reformieren will, sondern derjenige, der ihn weiter überfordert. Hierzu gehören vor allem die Sozialpolitiker, die nach dem Prinzip "Gießkanne" den Sozialstaat nachhaltig ruinieren.

Unsere Bürgerinnen und Bürger werden sich in Zukunft weigern, mehr Steuern und Abgaben zur Finanzierung des Sozialstaates zu zahlen. Wir müssen schon allein deshalb die Fundamente der sozialen Sicherungssysteme und der Sozialfürsorge erneuern. Die mangelnde Treffsicherheit und die Mitnahmeeffekte durch Fehlkonstruktionen im System der sozialen Leistungen ("Sozialkriminalität") sind die eigentlichen Gründe für den notwendigen Umbau des Sozialstaates. Wer den Sozialstaat retten will, der muß den Mechanismus seiner Zerstörung beseitigen.

Wir müssen den Sozialstaat vom Kopf auf die Füße stellen. Hierzu müssen wir uns marktwirtschaftlicher Prinzipien bedienen. Im Mittelpunkt muß dabei die Prämisse "Keine soziale Leistung ohne Gegenleistung" stehen. Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei hier noch einmal festgestellt, daß dies natürlich insbesondere auch den Staat einbindet. Der Staat hat dafür zu sorgen, daß Angebote zur Verfügung stehen, die überhaupt erst eine echte Hilfe zur Selbsthilfe ermöglichen.

Der alte Wohlfahrtsstaat hat ausgedient! In Zukunft müssen wir eine marktwirtschaftliche Sozialpolitik betreiben. Die Marktwirtschaft enthält die notwendigen Prinzipien - wie Wettbewerb und Vielfalt - um den Sozialstaat nachhaltig zu sanieren. Wir brauchen einen marktwirtschaftlichen Sozialstaat!